„Du musst loslassen…“ – Mythen & Fakten über Trauer Was wir glauben. Was wirklich ist. Und warum es keine „richtige“ Trauer gibt.

Trauer begegnet uns allen – irgendwann. Sie kommt plötzlich oder schleichend. Laut oder leise.
Sie ist das, was bleibt, wenn ein geliebter Mensch stirbt.
Und doch fühlt sie sich oft an wie ein Ort, den niemand beschrieben hat.
Dafür gibt es viele Erwartungen:
Du musst jetzt stark sein. Du trauerst immer noch? Jetzt muss es doch mal gut sein. Denk an die Kinder. Lass los.
So viele gut gemeinte Sätze, so viele Mythen – die mehr Druck machen als Halt geben.
Ich möchte heute ein paar dieser Mythen aufgreifen – und ihnen etwas entgegensetzen. Für das, was wirklich ist. Für das, was hilfreich sein kann. Für das, was Trauer wirklich bedeutet: widersprüchlich. schmerzhaft. ehrlich. menschlich.
Trauer braucht länger, als viele glauben. Trauer hat keine Deadline
Mythos: „Du trauerst immer noch? Jetzt muss doch mal gut sein.“
Fakt: Ein Kalender heilt keine Wunde. Ein festes Zeitfenster – ob vier Monate oder ein Jahr – ist kein Maßstab. Für viele wird der Schmerz sogar erst später spürbar – wenn das Umfeld zur Normalität zurückkehrt, während das eigene Herz noch stillsteht.
Trauer kennt keinen Fahrplan und keine Frist. Sie verändert sich. Sie wandelt sich. Aber sie „verschwindet“ nicht einfach – und manchmal bleibt sie ein Leben lang.
Mit dem Verlust beginnt auch eine Zeit voller erster Male: Feste, Entscheidungen, Herausforderungen – vieles, was früher gemeinsam bewältigt wurde, muss nun allein getragen werden. Und wer Kinder hat, spürt schmerzlich: Man kann die Rolle des Verstorbenen nicht einfach ersetzen.
Ein Gedanke, der mir wichtig ist:
Wie jemand trauert, hängt auch davon ab, wie ein Mensch gestorben ist.
Ein plötzlicher Unfall, ein Suizid, ein gewaltsamer Tod oder eine lange Erkrankung – jede Form des Verlustes hinterlässt andere Spuren.
Sie beeinflussen unser inneres Erleben, unser Verstehen, unsere Fragen an das Leben.
Es gibt keine „gleiche“ Trauer. Nur ganz persönliche Wege.
Trauer verläuft nicht nach Plan
Mythos: „Zuerst kommt der Schock, dann die Wut, dann die Akzeptanz…“
Fakt: Die sogenannten Phasen oder Modelle der Trauer können eine erste Orientierung geben – aber sie sind kein Pfad, den man linear durchläuft. Kein Mensch trauert exakt nach Lehrbuch. Und kein Modell der Welt kann wirklich beschreiben, was du fühlst.
Trauer ist eine Welle. Sie kommt, sie geht. Sie kann uns an ruhigen Tagen mit voller Wucht treffen und an einem anderen lässt sie uns wieder atmen.
Du musst dich in keinem Modell wiederfinden. Du musst nichts leisten. Deine Trauer folgt deinem eigenen Rhythmus – und das ist richtig so.
Phasen können übersprungen, wiederholt, verschwimmen oder gleichzeitig erlebt werden. Das ist normal. Und es braucht Zeit. Trauer ist keine Checkliste.
Trauer braucht manchmal Zeit, bevor sie spürbar wird
Mythos: „Wenn du nicht jetzt trauerst, wirst du es nie richtig verarbeiten.“
Fakt: Trauer folgt nicht automatisch dem Moment des Todes – sondern dem eigenen inneren Takt. Gerade in den ersten Wochen und Monaten sind viele Menschen im Funktionsmodus:
Die Beerdigung muss geplant, Verträge müssen gekündigt oder umgeschrieben, Behörden informiert werden. Es geht um Papiere, nicht um Gefühle.
Entscheidungen, nicht um Tränen.
Manchmal heißt das auch:
Trauer wird vertagt. Nicht, weil sie nicht da ist – sondern weil erst einmal andere Dinge eine vorrangige Dringlichkeit mit sich bringen.
Und das ist in Ordnung. Trauer lässt sich nicht „verpassen“. Sie kommt. Später. Unerwartet. Und sie darf dann auch Raum bekommen.
Was helfen kann:
Wer kann mir in dieser Zeit konkret helfen?
Muss ich diesen Weg wirklich allein gehen?
Wen aus Familie, Freundeskreis oder professionellem Umfeld kann ich um Unterstützung bitten?
Auch das darf gesagt werden:
Wenn der Kontakt mit Ämtern oder Institutionen emotional nicht möglich ist, darf man das kommunizieren.
„Ich kann das gerade nicht – ich trauere.“
Es ist menschlich, in Trauer nicht zu funktionieren. Und es ist in Ordnung, Termine zu verschieben oder sich begleiten zu lassen.
Trauer hat viele Gesichter – auch stille
Mythos: „Er wirkt so gefasst, vielleicht trauert er gar nicht richtig.“
Fakt: Tränen sind ein Ausdruck von Trauer – doch nicht der einzige. Manche schweigen, manche schreiben, manche gehen ans Grab oder sprechen in Gedanken mit ihren Liebsten. Manche wirken gefasst und zerbrechen innerlich.
Auch Männer dürfen weinen. Nicht nur dürfen – sie müssen nicht stark im Sinne von „keine Tränen zeigen“. Stärke hat nichts mit Zurückhalten zu tun, sondern mit dem Mut, zu Fühlen.
Was oft vergessen wird:
Trauer ist kein Zeichen von Schwäche. Sie ist ein Ausdruck von Verbundenheit, von Liebe, von tiefem Menschsein.
Wenn Männer nicht trauern dürfen -oder es heimlichtun müssen- verlieren wir etwas sehr Wertvolles: echte, fühlende Vorbilder.
Gerade wir Eltern haben eine Vorbildfunktion.
Wenn Kinder erleben, dass Erwachsene traurig sind und darüber sprechen, dann lernen sie:
„Gefühle sind okay.“ „Ich darf traurig sein.“ „Ich muss nichts verstecken.“
Traurigkeit sichtbar zu machen ist kein Risiko. Es ist ein Geschenk.
Kinder trauern anders – aber sie trauern
Mythos: „Kinder verstehen das noch nicht. Man sollte sie schützen.“
Fakt: Kinder trauern – auf ihre ganz eigene Weise. Mal spielerisch, mal mit Wut, mal in Fragen, die uns Erwachsenen das Herz brechen.
Sie brauchen ehrliche Antworten – in einer Sprache, die sie verstehen können.
Sie spüren mehr, als wir glauben. Und sie haben ein Recht darauf, einbezogen zu werden.
Nicht die Trauer ist gefährlich – sondern das Alleinsein damit.
Wenn Erwachsene schweigen oder nur schwammig erklären, was passiert ist – etwa: „Papa ist eingeschlafen“ –, kann das bei Kindern Unsicherheit, Ängste oder sogar Schuldgefühle auslösen.
Ehrlichkeit ist nicht überfordernd. Sie ist ein Akt der Verbundenheit.
Wenn du mehr über „Wie Kinder trauern“ wissen möchtest, dann lies gerne unseren Beitrag dazu.
Du musst nicht loslassen – du darfst dich neu verbinden
Mythos: „Wenn du wirklich heilen willst, musst du loslassen.“
Fakt: Viele Trauernde sagen: Ich will gar nicht loslassen. Und das müssen sie auch nicht.
Trauer bedeutet nicht, dass man aufhören muss zu lieben oder die Verbindung zu kappen. Es geht darum, die Beziehung zum Verstorbenen neu zu gestalten: durch Erinnerungen, in Rituale, in Gedanken oder in inneren Gesprächen.
Wir dürfen weiterlieben – auch wenn jemand nicht mehr hier ist. Nicht loslassen – neu verbinden.
Trauer ist auch körperlich
Viele Menschen erleben Trauer nicht nur emotional, sondern auch körperlich: Schlafstörungen, innere Unruhe, Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen, Herzklopfen. Auch das ist Teil des Prozesses. Sich selbst gut zu versorgen – mit Ruhe, leichten Bewegungen, Wärme – kann helfen, durch diese Zeit zu kommen.
Trauer ist kulturell verschieden
In manchen Kulturen wird laut getrauert, in anderen leise. Manche trauern im Kreis der Familie, andere ganz für sich. Jede Ausdrucksform ist richtig – wenn sie sich für den trauernden Menschen stimmig anfühlt.
In Mexiko etwa wird am „Día de los Muertos“ der Tod gefeiert – mit Musik, Blumen, Fotos und Geschichten, die an die Verstorbenen erinnern. Im Judentum hingegen gibt es eine einjährige Trauerzeit, in der auf Feste und gesellige Anlässe verzichtet wird. Diese Rituale zeigen: Es gibt viele Wege, mit Verlust umzugehen – keiner davon ist falsch. Sie alle spiegeln kulturelle Haltungen zu leben, Tod und Erinnerung wieder.
Trauer wandelt sich. Sie bleibt, doch anders.
Trauer verschwindet nicht. Aber sie verändert ihre Gestalt. Sie kann einen neuen Platz im Leben finden, ohne vergessen zu bedeuten. Manche sprechen von „Integration“: Der Schmerz wird nicht kleiner – aber tragbarer. Er lebt mit uns weiter – als Teil unserer Geschichte.
Ein paar Gedanken zum Schluss – Was bleibt?
Dieser Text greift einige Mythen rund um Trauer auf – er ist kein vollständiges Bild. Es gibt viele weitere Vorstellungen, Sätze oder Annahmen die trauernde Menschen im Alltag hören und die ebenso Raum und Beachtung verdienen. Dies hier ist ein Anfang.
Vielleicht erkennst du dich in einem dieser Sätze wieder. Vielleicht wurde dir einer dieser Mythen schon einmal gesagt – oder du hast ihn selbst geglaubt.
Vielleicht trägst du Trauer in dir, die nicht sichtbar ist. Vielleicht fühlst du dich noch immer „nicht richtig“ in deiner Art zu trauern.
Dann möchte ich dir sagen:
Du darfst fühlen, was du fühlst. Auf deine Weise. In deiner Zeit. In deinem Tempo.
Mit deinen Gefühlen.
Und: Du musst diesen Weg nicht allein gehen. Wenn du magst, dann kontaktiere uns – Wir sind für dich da.
Trauer ist nicht falsch. Sie ist ein Teil der Liebe, die bleibt.
Anke & Natalie
Wer schreibt hier?

Wir sind Anke Kircher & Natalie Balogh!
Gemeinsam beraten, coachen und begleiten wir Erwachsene und Kinder individuell oder auf Wunsch die gesamte Familie zu den Themen Trauer und Burnout.